„Lackschuh-Dieter“, „Karate-Tommi“, „Der schöne Klaus“: In der „Ritze“ ging das Milieu ein und aus. Jetzt feiert die Kneipe mit dem Gym 50-jähriges Bestehen. Carsten Marek, einst Boss der „Marek“-Bande und heutiger Betreiber, erinnert sich.
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Ein Donnerstagvormittag, viertel nach elf. In der Ritze riecht es nach kaltem Rauch, aber auch frisch gewischt. An den Wänden ein Meer aus gerahmten Fotos. Dazwischen Devotionalien des Boxsports, Handschuhe, Gürtel, Urkunden. Hinten rechts in der Ecke, im roten Licht einer tief hängenden Lampe, nimmt Carsten Marek Platz. Am Tresen, mit dem Rücken zu den Gesprächspartnern, sitzt ein Mann namens Wolfgang, der „Boxkenner, Ex-Kollege, Freund, Fahrer und Terminkalender“ in einem sei. Marek, der momentan keinen Führerschein hat und auch deswegen den Bekannten als Fahrer braucht, trägt T-Shirt zum Jackett, Haarsträhnen fallen ihm in die Stirn, so hat er was von einem in die Jahre gekommenen Sonny Crockett aus Miami Vice.
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„Die Ritze“ mit dem Boxstudio im Keller feiert am Donnerstag ihr 50-jähriges Jubiläum, und Marek ist ihr Betreiber.
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Cornern statt Sex, der Kiez verkommt zur Kulisse
Der Ex-Zuhälter ist die letzte graue Eminenz auf dem Kiez und „Die Ritze“ so etwas wie der letzte Fleck auf der längst weiß gewaschenen Weste St. Paulis. Die Immobilienpreise sind hoch, die Rotlichtvergangenheit wirkt wie eine Kitsch-Kulisse, vor der sich Touristengruppen mit billigen Wodka-Bomben abschießen. In der „Ritze“ aber soll alles so bleiben, wie es war und ist. Carsten Marek gab darauf sein Ehrenwort. Im ersten Teil des Gesprächs beschränkt er sich darauf, zu nicken, zu ergänzen oder zu widersprechen, wenn man die Geschichte der Kneipe, die auch er nur vom Hörensagen kennt, zu skizzieren versucht. Erst später wird die Geschichte der „Ritze“ auch seine.
Dabei sollte die ursprünglich „Spalte“ heißen. Weil das den Behörden aber dann doch zu schlüpfrig war, einigte man sich bei der Gewerbeanmeldung 1974 auf die etwas unverfänglichere „Ritze“. Wobei sich das mit dem Unverfänglichen nicht lange hielt, spätestens als Kiez-Rubens Erwin Ross die legendären gespreizten Frauenschenkel über die Eingangstür der Kneipe malte, die mittlerweile Millionenfach fotografiert wurden. Einen offiziellen Mietvertrag brauchte es nicht, ein Handschlag reichte aus. Kneipengründer war Hanne (Hans-Joachim) Kleine, früherer Mittelschwergewichtsboxer der DDR-Nationalmannschaft. Kein Mann also, mit dem man im Clinch liegen wollte.
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Der vordere Teil der Hinterhof-Kneipe war einst das Pissoir des Puffs „Palais D’Amour“, der hintere wurde weniger Jahre später angebaut. In diesem Teil ging die „Geschlossene Gesellschaft“ ein und aus. „Lackschuh-Dieter“, „Wiener-Peter“ „Chinesen-Fritz“, „Karate-Tommi“, „Der schöne Klaus“. Heute wird der Vorhang nur noch alle zwei Wochen montags zugezogen, wenn sich der Sparclub trifft.
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In den 1970er-Jahren regierte auf dem Kiez das Gesetz der Faust, und es gab drei rivalisierende Zuhälterbanden. So wurde die „Ritze“ auch zum blutigen Schauplatz. 1981 schoss ein Auftragsmörder „Chinesen Fritz“ vom Barhocker, bei laufendem Betrieb.
Mit 24 fuhr er einen Mercedes 450 SEL
Der erste offizielle Mietvertrag ist datiert auf das Jahr 1984. Carsten Marek, geboren und aufgewachsen in Rothenburgsort, Sohn eines Wirts und einer Buchhalterin, war damals 24 und fuhr einen silbernen Mercedes 450 SEL. Für ihn lief es richtig gut. Er hatte sich gegen den Klempner-Job und für seine eigene Sportschule entschieden und das „Bushido“ in Dulsberg eröffnet. Das erste Mal in die „Ritze“ zitiert wurde der Kickbox-Weltmeister, weil er, ein Werbeschild – „In der Hure liegt die Kraft“ stand darauf – für seine Sportschule auf der Fläche von Kleines „Ritze“ aufgehängt hatte.
Der Mann an der Theke, der raucht und Cola trinkt, dreht sich erstmals um. „Aus Versehen oder was?“ „Ja, ich hab da gar nicht dran gedacht“, entgegnet Marek.
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Wie es früher schon vibrierte
Jedenfalls dauerte es keine 48 Stunden, und Eckhart Dagge, Deutschlands zweiter Boxweltmeister nach Max Schmeling (allerdings im Junior-Mittelgewicht), richtete ihm aus, dass Hanne ihn sprechen wolle. Er solle zum Training in den Boxkeller kommen. „Wenn Hanne Kleine einen sprechen wollte, dann kam nicht infrage, nicht hinzugehen“, erinnert sich Marek, der mit Ärger rechnete. Statt der befürchteten Abreibung lud Kleine ihn aber zum dauerhaften Training ein.
80 Huren schafften zu dieser Zeit für Marek an. Seine erste hatte er mit 18. Frisch getrennt von seiner Freundin fing er ein Verhältnis mit einer anderen Frau an. Er fuhr sie, und sie gab ihm Geld, wenn er welches brauchte. Nach ein paar Wochen erfuhr er, dass sie anschaffte. „Ich machte ihr eine Riesenszene, und sie dann so: ‚Pass mal auf: Erst mal hast du eine Freundin – sie wusste nicht, dass ich Schluss gemacht hatte. Und zweitens nimmst du mein Geld. Wir sind quitt.“ Früher hätten sich Huren ihre Zuhälter ausgesucht, um geschützt zu sein, sagt Marek. Er beugt sich vor und sagt an den Mann am Tresen gerichtet „Kann man das so sagen?“ Der blickt von seiner Lektüre auf. „Kann man.“
„Die kommen, um dich zu holen“
Die folgenden Geschäftsbeziehungen, die Marek zu Frauen hatte, basierten weniger auf Augenhöhe als bei seiner ersten. In den Jahren 2000 bis 2005 arbeiteten bis zu 200 Prostituierte für die zuweilen 80 Mann starke „Marek“-Bande. Sie regierte das Terrain rund um die Herbertstraße, doch es gab immer öfter „Stress“ und „Geballer“. Bis ihr Boss im Restaurant des „Hotel East“ saß, Sushi aß und sein Handy vibrierte. „Die kommen, um dich zu holen“, pfiff da einer. „Dass sie mich verhaften würden, damit hatte keiner gerechnet“, erinnert er sich. Zur Wahl des Zeitpunkts hat er seine eigene Theorie. Die WM stand vor der Tür, mit Millionen an vergnügungshungrigen Fans in der Stadt. Eine Eskalation auf dem Kiez war das Letzte, was man da gebrauchen konnte. „Die wollten, dass wir weg sind. Dass Ruhe ist auf’m Kiez“, so Marek.
Was folgte, sollte als einer der spektakulärsten Fälle des Rotlichtmilieus Geschichte schreiben. Carsten Marek und seine Leute wanderten zunächst hinter Gitter. Doch die juristische Ausbeute fiel mau aus: Neun Freisprüche, zwei Bewährungsstrafen und eine Verurteilung zu einem Jahr und neun Monaten Haft ohne Bewährung. Marek selbst wurde wegen gewerbsmäßigem Menschenhandel, sexueller Ausbeutung und Förderung der Prostitution zu 22 Monaten Haft auf Bewährung verurteilt. Grund für die milden Strafen war die dünne Beweislage. Die Kronzeugin hatte bei Identifizierungen geholfen, verweigerte dann aber weitere Aussagen.
Sein Freund erhängte sich im Gym
Als Marek nach 13 Monaten U-Haft frei kam, war nichts mehr, wie es war. „Das Machtgefüge hatte sich zu unseren Ungunsten verschoben“, so Marek. Und wieder diente die „Ritze“ bei einem traurigen Schlussakt als Bühne. In einer Winternacht erhängte sich Stefan Hentschel, einer der letzten einflussreichen Kiezgrößen, im Gym, hinten rechts. An eben jenem Haken, an dem sonst sein Boxsack hing.
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An zwei Stellen des Gesprächs wendet Carsten Marek den Blick ab. Nicht zur Beerdigung vom Stefan gegangen zu sein, nur Tage nach seiner Freilassung, sei ein Fehler gewesen. Am selben Tag hatte er einen Termin mit seinen Anwälten. „Die sagten: Wenn du zur Beerdigung vom Hentschel gehst, legen wir unser Mandat nieder.“ Carsten Marek blieb im Geschäft, zog sich aber vom Kiez zurück. 2010 eröffnete er das „Babylon“ in Hamburg-Hamm, ein 4000 Quadratmeter großes Bordell, wo Prostituierte auf Zimmern gegen eine Tagesgebühr ihre Dienste anbieten. 2011 wurde er Vater.
Mit der Geburt der Tochter ändert sich sein Leben
Andere begannen, die Macht an sich zu reißen. Seiner Frau, einer Kubanerin, versprach er, bei wichtigen Terminen eine schusssichere Weste zu tragen. Einmal wollte er ohne eine los, weil er sie nicht finden konnte. Da habe sich seine Tochter, damals vier, an seine Beine geklammert. Er sei dann trotzdem los, erzählt er, und wendet den Blick ab. Da habe er das erste Mal „so was wie Angst“ gespürt. Nicht vor dem, was hätte passieren können, „sondern dass man Menschen, die man liebt, da mit reinzieht.“ Mit der Geburt der Tochter, sagt er, sei er ins bürgerliche Leben eingetreten. „Heute grillt er mit seinen Nachbarn“, fügt der Mann am Tresen hinzu.
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Im November 2011 starb Ritze-Wirt Hanne Kleine nach langer Krankheit. Übernahme-Interessenten standen Schlange. Jan Fedder und andere Promis machten sich für eine Weiterführung durch Hannes Witwe Kirsten stark. Der Pachtvertrag wurde um fünf Jahre verlängert. Doch Kirsten Kleine wurde bedroht, sie solle endlich den Laden aufgeben. Vier Jahre später wandte sich der Anwalt der Familie Kleine an Marek. „Willst du den Laden nicht weitermachen?“ „Das hat mich gereizt“, so der 64-Jährige. Erst übernahm Marek das Gym und ließ neue Duschen einbauen. Ein Jahr später folgte die Kneipe.
Seine Strategie? „Alles so lassen, wie es ist.“ Anfang November fungiert die „Ritze“ als Bühne für ein neues Format. „Kiez-Life Live“ heißt es, eine Personality-Show, in der Kiezgrößen über alte Zeiten plaudern. Daran glaubt er und an seinen neuen Boxer. Ob er den Namen schon nennen soll?, fragt Marek seinen Freund-Fahrer-Terminkalender. „Jetzt kannst du“, und dann Marek: „Er heißt Angelo Frank. Und der Mann am Tresen fügt trocken hinzu: „Und der ist Zirkus-Direktor.“ Passt doch hierher.
Eva Eusterhus berichtet seit 2006 für WELT aus Hamburg, über das alte St. Pauli schreibt sie am liebsten.